Unzeitgemäße Beobachtung

8 11 2017

Es gibt halt diese Menschen, die die Wände – im Falle der Uni Wien eher die Türe der öffentlichen WCs mit den Sprüchen beschmieren, die so in (pseudo-?)philosophische Richtung neigen. Wie etwa kritzelt so eine kreative Hand: „Fuck Islam und Kopftuchwahn“. Gleich darunter liest man, in einer anderen Handschrift geschrieben, eine weitere „ewige Wahrheit“: „Männer mit langen Haaren! Tragt Kopftücher, denn eure Haare machen mich zu geil!“. Noch weiter unten sieht man einen Aufkleber Refugees Welcome.

Nun, warum ich das hier anspreche. Wie man vielleicht weiß – ich verheimliche ja nichts – habe ich selber so was von einem Migrationsvorderhintergrund. Dank meiner beruflichen Tätigkeit der letzten zwei Jahre – in der Sozialbetreuung der ankommenden AsylwerberInnen – behaupte ich auch, ein etwas unmittelbareres Wissen aus der Sphäre zu haben, als so manch ein selbstberufener Philosoph, sei es einer, der sich für einen Politiker (oder Politikerin) hält, oder so einer (oder eine 😉 ), der/die nicht weiter kommt, als die Türe anzuschmieren.

Ich habe zum Beispiel kaum eine Iranerin mit Kopftuch gesehen, von Vollverschelierung ganz zu schweigen. Mir dünkt, mein revidiertes Bild einer Iranerin – einer Frau mit beneidenswert vollen dunklen Haaren und so schön charaktervollen Gesichtszügen, gekonnt unterstrichen durch Schminke, ganz leger und „westlich“ angezogen – passt nicht unbedingt in die allgemein herrschende Vorstellung, nicht wahr?

Auch im privaten Umfeld bin ich mit Menschen aus diversen Herkunftskulturen befreundet. Eine gute Freundin von mir kriegt zum Beispiel keine abschlussrelevante Stelle, da sie – eher aus familiären Gründen, als aus irgendeinem religiösen Wahn – ein Kopftuch trägt. Kein Niqab, nichts, ein schönes weißes Kopftuch, das ihre feinen Gesichtszüge ziemlich schön betont. Die junge Dame ist in Österreich aufgewachsen, hat einen BWL-Abschluss und zitiert aus dem Gedächtnis Goethe.

Ich selbst wurde äußerst weltlich aufgezogen, mein Wissen über die Religionen verdanke ich eher meiner lebenlangen Leidenschaft – Geschichte, als familiärer oder schulischer Prägung. Ein Kopftuch, das auch bei den Orthodoxen eine wichtige Rolle spielt, ist für mich eine leere Formalität. Die Diskrepanz zwischen meiner Einstellung – und der meiner guten Freundin – stört uns aber keinerlei daran, eine gegenseitige Sympathie, bzw. Respekt zu emfpinden. Ich würde mal sagen, wenn wir uns schon nicht einig sein sollten, dann eventuell nicht wegen des Glaubens, sondern eher weil ich nicht Goethe, aber eher Rilke mag.

Um die Kurve jedoch abzuschließen, zurück zu Refugees Welcome. Die allerwichtigste Frage, die ich nun in den Raum stellen möchte. Mir fiel nämlich auf, dass die weibliche Silhouette auf dem Aufkleber eine eher „westliche“ Frau darstellt: ihre schulterlangen Haare wehen im Winde, ihr Kleid ist knielang und ärmellos.

Und an der Stelle möchte ich nun fragen: heißt es etwa, nur die Flüctlinge sind willkommen, bei denen die Frauen ohne Kopftuch und westlich angezogen herumlaufen? Wie gesagt, keine Rede von Niqab. Kopftuch. Lassen wir die syrischen Frauen „dahaam“ bleiben, wenn sie kein kurzes Kleidchen anziehen wollen? Heißt es, wir nehmen nur Iranerinnen auf? Heißt es, dass ich – blonde Haare, blaße Haut, blaue Augen – „österreichischer“ und willkommener bin, als meine Freundin, mit der ich über die deutsche Dichtung von Sturm und Drang reden kann? Heißt es nicht, dass unser „Herzlich willkommen“ sehr oft so simplistisch und naiv ist, dass wir nur die Menschen akzeptieren wollen, die uns selbst gleich aussehen? In die innere Welt von ihnen schauen wir nicht einmal rein: wozu auch, denn, siehe oben: „Kopftuchwahn“?

P.S. Für diejenigen, die an Migration und Flucht als Thema tatsächlich auch tiefgreifender interessiert sind, möchte ich hier noch ein neues Buch von Philipp Ther empfehlen: „Die Außenseiter„. Es ist eine auch sprachlich, jedoch vor allem analytisch schön geschriebenes Buch, das auf einige Flucht- und Migrationsbewegungen in Europa seit dem 18. Jahrhundert eingeht und in viele elendlangen Debatten über die Integrierbarkeit eine so notwendige Maktoebene zieht. Keine Naivität, keine Hetze – durchdacht und ausgewogen. Äußerst gute Lektüre, die mir einige Augenblicke von „ah, das stimmt ja!“ oder „Wow, daran hab ich noch nicht gedacht“ schenkte.





Abendgedanken. Aus dem Alltag der Sozialbranche.

6 11 2017

Ich bin dabei.

Bin ziemlich gern dabei:

Ich lernte es, den Menschen zuzusehen

Und deren Leben aus den Handbewegungen,

Kopfschütteln,

Atemrhythmus,

Augenglanz zu lesen.

Ich weiß es nun, wie manche heimlich weinen,

Wie manche toben aus dem nichtigen Anlass,

Wie manche – trinken Tee und reden,

Man tötet Lebenszeit und wartet, wartet, wartet…

 

Sie machten mich erwachsen… Reifer, stärker…

Ich hätte mir den Anblick auch erspart:

Gejunkte Frau, mit ihrem Fernseher redend,

Die Welt beschimpfend, kantig und durchtränkt mit Hass

Zu Allen und zu sich selbst in diesen Allen.

Die Andere, die gerne Karten spielte

Und Tulpen mochte, ganz genau wie ich,

Die arme Seele! – und ich musste weinen,

Als sie auf Intensiv zu meiner Hande griff,

Entsetzt durch die Wahrnehmung, dass sie sterben würde…

 

Sie machten mich erwachsen: Kinder, katatonisch weinend, –

Noch schlimmer ist es wenn sie fröhlich sind!

Man kann das Herz nicht schließen,

– mit den Kindern kaum.

Du lernst sie lieben: das Gewicht auf deinem Arm,

Geruch der Haut und Glänzen ihrer Augen,

Wie sich das Haar anfühlt, wenn du mal drüber streichelst,

Wie du mit deinen pädagogischen Ansätzen baff da stehst,

Und manchmal, fasziniert von elterlicher Weisheit,

Berührt und staunend Menschen still zusiehst –

Und sie sind weg.

In einem Atemzug.

Für immer.

Du sucht nach Luft.

Nun bist du hinterblieben. 

 

Erzählt uns, dass wir böse Menschen sind.

Wir schützen uns wie es nur geht. Vergeblich.

 

 





Sommer in der Stadt

19 10 2017

Sommer in der Stadt:

Zucker, Benzin und Parfüm in der zitternden Luft,

Der Gehsteig glüht vor Hitze.

Eine junge Frau im samtenen Kleid –

eine fließende Kurve zum Staunen.

Ein Kind blickt mich an

durch die Lokalvitrine,

nachdenklich und naiv, so unbekümmert rein –

Ein kleiner Weiser! –

Und ich muss lächeln…

 

Bewegung überall: ein Werktag,

hin und her und wieder zurück,

den Geschäften nach,

Alles bebt

Und fließt

Und atmet

Frei…

So schön ist das!

Ich bin am Leben!

Das Herz schlägt – ich schlage noch! –

Verliebt in diese Stadt:

Wo waren doch meine Augen früher?





Integrationswa(h/n)n

15 05 2017

Sie sagen nicht, du seist grundsätzlich falsch:

nicht gut genug,

nicht genuin,

nicht brav und angepasst,

nicht ausgebildet,

nicht erfahren;

Sie sagen nicht, dass deine blonden Haare

und blaue Augen führten sie zum Glauben,

du seist so einfach rot-weiß-rot und basta.

Sie glauben dich zu kennen,

voraussagen können

– „Ausländer!“ –

In Kasten simpler Fantasien reinzuhauen,

Oh, stimmte etwas nicht? Es tut uns leid, wir haben uns geirrt,

Bringen Sie vielleicht noch nach

Ein dutzend tausend nutzloser Papiere:

Röntgenaufnahmen linken Ohres ihrer Mutter,

Nachweis, – nostrifiziert! – dass Sie noch nie geschnarcht hab´n,

Und dann…

na dann

wir schauen uns mal an,

Ob Sie verdeutscht genug sind, um zu uns zu passen…

.

Was ihrem Blick verborgen bleibt

Sind nicht nur hunderte Merkzettel,

Stunden und Stunden Pauken starker Verben –

Während ein Durchschnittsösterreicher nicht mal ahnt,

Was starke Verben seien,

Von deren Nutzen ganz zu schweigen…

.

Sie wissen nicht, wie heiter es mal war,

Im Dialekt zu schimpfen, bis es eines Tages

So kam, dass du mit deinen Eltern wienerst

Dass du nach Worten suchst, auf Russisch angesprochen,

Dass dir kyrillische Buchstaben fremd geworden sind,

und du dir überlegen musst,

wie schreibt man bitte „u“? – ah, danke, Ypsilon, das war es…

Sie wissen nicht, wie herrlich Strauße klingen,

vermischt mit Shostakovich und wie gut

sich Rilke reimt mit Blok,

wie prächtig Händel klänge in Eremitage

Mit seinem üppigen Barock.

Sie ahnen nicht, wie endlos lustig ist es,

Am Kahlenberg beim Wandern: wer sind sie,

Drei ukrainische Kosaken –

Erinnerung an Sechzehn-Dreiundachtzig,

Kosaken und Belagerung Wiens…

.

Sie wissen nicht, wie du beim Kopfanstoßen

An ewig falsch geöffn´ter Kühlschranktür

Statt diesem blumig slawischen Geschimpfe,

Genervt „Du, Scheiße“ schreist – und bleibst entsetzt.

Dass du mal eines Tages merkst, dass deine Reime nimmer gehen…

Dass du am Ende jeder russischen Zeile

Ein deutsches Verb dazu reinsteckst;

Im Deutschen fühlst dich aber wie ein Küken

mit ungeübter Hand und flachem Stil,

und so verstummst du für sechs lange Jahre…

.

Sie wissen´s nicht. Sie reden, voll gerüstet,

Mit ihrem besten Wissen und Gewissen,

Und oh Gott,

Wer wäre ich, um ihnen vorzuwerfen,

Sie hätten nicht – manchmal, nicht immer – recht.

Und doch wie gerne würde ich manchmal schreien,

Dass, auch wenn man in Fahnenfarben badet,

Ab irgendwann wird es schon richtig blöd,

Enttäuscht und bitter, so unendlich einsam,

Und man verstummt und zieht sich nur zurück…





Funny linguistics: Standing in your shoes

21 11 2013

Enjoy!

Funny linguistics - standing in your shoes





An die Graffitis

31 10 2013

Mir ist heute ein Graffiti aufgefallen: an der Wand irgendwo im 9. steht so schön geschmuckt geschrieben „Fuck Bitches allday“ (Orthography und Inhalt ohne meine Korrektur, also Entschuldigung). Nicht dass ich eine rücksichtslose Puristin wäre, auch wenn es sicherlich Leute gibt, die wesentlich liberaler und lockerer sind, als ich. Eigentlich habe ich nichts gegen Straßenkunst oder bloß Straßenschreiberei. Die Zwei würde ich nämlich dadurch unterscheiden, dass – abgesehen vom Inhalt – die Kunst immer eine Art kreative Verarbeitung von Ideen mittels einer durch Fleiß und Übung erworbenen Fähigkeit ist, während das Letztere keinen technischen Komponent enthält. Menschlich gesagt: das ist für mich Straßenkunst, während das Straßenschreiberei ist. Gegen Inhalt habe ich generell nichts: die Leute schreiben seit Jahrhunderten alles Mögliche an den Wänden und die Inhalte sind normalerweise ziemlich voraussagbar: wer wo war oder wer wen auf welche Weise, wie oft und intensiv – Sie wissen schon.

Aber wie schön wäre es, so ein Projekt zu starten: sagen wir mal, Graffiti für Fortgeschrittene. Die ein gewisses Bildungsniveau verlangen, etwas vom Rätsel haben und daher Zusätzliche Zufriedenheit für die Leute bereiten, die es erraten haben, worum es geht. Warum schreibt man ‚Cobain lebt‘?  Ich meine, es ist zu vermuten, dass vielmehr Leute heutzutage mehr mit Cobain, als mit Mozart anfangen können, ja. Aber mal ‚Rock me Amadeus‘ auf einer Wand zu lesen wäre schon nett und sicherlich gar nicht so weit von Popkultur, oder? ‚Falco lebt‘ finde ich übrigens schon wesentlich besser als das Ding mit Cobain. Wer es mit etwas skurrilem Humor würzen möchte und auf Alllerheiligen und Wiener Sentiments bzgl. des Todes steht, mag schreiben „Hirsch lebt“, warum nicht. Wer es mit Wortspielen mag, könnte so was wie „Freud freut“ oder „Popper poppt“ schreiben, gerne! Und wie unerwartet und schön wäre es doch, mal was Anderes als üblich zu sehen!

 





Evolution des Frühlings – T.3 – Regenskizze

26 05 2013

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Evolution des Frühlings – Aprilskizze aus Graz

9 05 2013

Baum

 

 





Evolution des Frühlings – Aprilskizze aus Eggenburg

4 05 2013

Es folgen weitere Skizzen, die meine Frühlingssucht (und dadurch auch teilweise Abwesenheit von hier: ich bin seit einem Monat voll betrunken mit Geräuschen, Düften und Gestalten der eifrig blühenden Stadt) ausdrücken.

(Immer noch) kahle Birke, Eggenburg

 





Ein Mann kommt nach Hause…

28 03 2013

Ob es mir scheint oder nicht, aber traurige Geschichten über betrogene Liebe gibt es überwiegend über Frauen, oder? Auch hier im Archiv gibt es eine entsprechende Geschichte (Englischsprachig). Generell aber habe ich wenig Lust, durch die einseitige Darstellung des Problems zum weiblichen Opfer-Syndrom beizutragen. Letztendlich bin ich von männlicher Natur und Männlichkeit per se aufrichtig fasziniert – es kann sein, dass ich sie nie weder voll begreifen, noch artgerecht darstellen kann – aber es ist des Versuches wert. Hier ist also eine Alltagsgeschichte… 

Freundlich klickte der Schlüssel im Schloss, Walther Mayer zog die Kopfhörer aus den Ohren und tritt in die dunkle Wohnung hinein.

– Helga? Ich bin´s!

Alles still. Die Frau war sicherlich nicht da. Schade, sein etwas zu früher Rückkehr war vor allem als eine angenehme Überraschung für sie gemeint, da sie sich bei seinen zwar nicht so häufigen, aber in letzter Zeit doch regelmäßigen Vorträgen im Ausland immer beklagte, sie vertrage es nicht, allein in der Wohnung zu sein. Nun gut.

Er warf den Schlüsselbund auf den Kasten neben der Tür, stellte den Koffer weg, zog die Schuhe aus, schaltete den Anrufbeantworter an und ließ sich ausatmen. Nun gut, wenn Helga sowieso nicht da ist, hatte er etwas Zeit zum Runterkommen nach einem unruhigen Flug. Das ganze Zentraleuropa verschwand seit mehr als einer Woche unter dem endlosen Schneesturm, schon beim Wegfliegen war es bis zum letzten Moment nicht klar, ob man überhaupt Flugerlaubnis kriegt und dann wo geplant landet. Auch jetzt, beim Rückflug gab es nichts Neues, außer dass man schon in Wien zweimal durchstarten musste, bevor es dem Piloten gelang, die Maschine zu landen. Eine Zigarre wäre jetzt eigentlich gar nicht schlecht…

„…Also, wir sehen uns sowieso im Institut, aber ruf mich vielleicht an, wenn du da bist, oder?“ – ein langer Ton, danach eine weibliche Stimme: „Um die Nachrichten zu löschen..“. Wie erwartet, nichts neues: ein Anruf von der Institutssekretärin, ein von Martin, ein von Anton. Alles wie immer. Na ja, keine Anrufe von Erich, der ist aber seit sechs Monaten in den USA, kein Wunder, dass er nicht checkt, ob Walther schon zuhause angekommen ist oder nicht.

Mayer holte sich eine Zigarre, zündete sie an und setzte sich an seinen Schreibtisch direkt gegenüber dem Schreibtisch von Helga. Ihre Bücher, auf dem Umschlag des Oben-liegenden stand es „Frauen im Leben von Sigmund Freud“. Was schreibt man alles! Wahnsinn. Sein Blick glitt entspannt auf den Papieren und Büchern auf seinem eigenen Tisch: einige nicht geöffnete Couverts, eine noch verpackte Ausgabe „Zeit“, ein ärztlicher Befund, ein paar Rechnungen, eine Stapel studentische Seminararbeiten „zur Pflichtlektüre“ – er hat sie beim Wegfliegen eben hier vergessen, das hieß, ein paar bevorstehende Abende könnte man aus dem Kalender wegstreichen. Was für ein Befund übrigens?

„Frau Helga Maria Mayer, geboren 13.3. 1954… Schwangerschaft positiv… 13 Wochen… Unauffällige Darstellung v. Fötus…“

Wie? Was? Eine deutliche Pause im Herzrhythmus. Hat sie sich doch anders überlegt? Wann? Wie? Endlich mal… Gott… Mensch! Ist das wirklich wahr?

Ist es im Zimmer so heiß geworden oder ist es bloß dass er fiebrig geworden ist? Oh Gott… Helga, du süße… Ein Kind zu haben…

Mayer zwang sich doch tief ein- und langsam auszuatmen. Dann griff er an das Papier noch fester und las genauer, was da stand. Das Zimmer walzte um ihn herum, irgendeine komische Art kicherndes Lachen kitzelte die Kehle. Er wird Vater sein. Mensch, so was gibt es nicht… Es war so ein Gefühl, als ob er wieder 16 wäre und zum ersten Mal jemanden geküsst hätte. Oder als ob es ihm heimlich mitgeteilt wäre, er kriege nun einen weiteren Doktortitel. Einfach so, für Fleiß, Mühe und Geduld, so zu sagen… Ein Kind zu haben…

Dreizehn Wochen… Automatisch dachte er an die Zeit vor drei Monaten zurück. Es war gerade als er bei Erich in den USA war – offiziell auf einer mehrtägigen Konferenz, aber nicht zuletzt um den alten Freund kurz nach dessen Übersiedlung auf die andere Seite der Welt zu besuchen und zu unterstützen. Eigentlich war es ursprünglich geplant, dass auch Martin und Anton mit ihm nach New York fliegen würden, der Erste flog dann aber schon nach zwei Tagen wieder nach Hause, da seine Mutter einen Herzanschlag erlitt. Der Zweite konnte überhaupt nicht weg aus Wien und rief daher ständig an… Walther selbst blieb gute drei Wochen dort, Helga hatte anscheinend nichts dagegen, sie meinte, sie habe gerade so viel in der Arbeit zu tun gehabt….

Warte mal… Er war doch drei Wochen lang weg… Nein… Was für Blödsinn fällt einem ein! Aber er war doch wirklich drei Wochen lang weg… Es können also keine 13 Wochen sein, es ist wahrscheinlich ein ärztlicher Fehler. Ob Helga das auch bemerkt hat? Musste sie wohl! Es können ja sicherlich keine 13 Wochen sein, außer dass es natürlich… Nein, was für Wahnsinn… Oder?

Das weiße winterliche Zwielicht hinter dem Fenster verwandelte sich langsam in blaue Abenddämmerung. Die Zigarre brannte unberührt im Aschenbecher auf. Als die Wohnungstür aufkam, berührte sich der am Schreibtisch sitzende Mann nicht. Ganz in unruhige Gedanken vertieft, reagierte er nicht, als die weibliche Stimme seinen Namen rief. Erst als Helga an ihm zu ihrem Tisch vorbeiging, sich ihm gegenüber hingesetzt hat und eine schmale, nach Kirschen riechende Zigarette angezündet hat, zuckte Walther gewaltig zusammen und schien aufgewacht.

– Du hast offensichtlich den Befund schon gefunden. – Sagte seine Ehefrau, es war eher eine Aussage, als eine Frage.

Mayer blieb still und nickte schwach. Ihm fielen keine Worte ein.

– Na ja, das war eine Überraschung, muss ich dir ehrlich zugeben. – Grinste Helga und atmete den Rauch ein. – Ich glaube, wir müssen unsren Thermentermin in Oberlaa absagen oder du fährst allein hin, während ich zum Arzt gehe. Ich schließe mich dir dann später ein, m?

– Wie meinst du das? – Fragte er leise.

– Na ja, ich werde doch das Kind sicher nicht behalten, oder? Du weißt es doch selber, ich bin kein Mütterchentyp.

– Du willst abtreiben?

– Natürlich. Besonders jetzt, wo ich vermute, die Professur wäre ja gar nicht so weit entfernt, wie es mir vorher schien. Ein Kind würde mir nun den gesamten Spaß verderben.

So ein grotesker Abend! Ob er nicht träumt? Ob er bei seinem freudlosen Nachdenken nicht lediglich eingeschlafen sei und nun von all diesem Unsinn bloß träume? Dass Helga, die Helga, die er, sowie auch Anton, Martin und Erich, seit der Volksschule kennt, die Helga, seine erste, damals noch ganz unschuldige Verliebtheit, später von seinen Eltern einstimmig gefeierte „allerbeste Wahl“ von ihm, seine Verlobte und Ehefrau schon zu den wilden studentischen Zeiten, seine Partnerin im langen und mühsamen Sozialaufstieg, ob das alles wohl diese vor ihm sitzende Frau war? Es kam ihm vor, als ob er zwar all ihre Gesichtszüge auswendig kannte, all ihre Bewegungen und Intonationen, aber die Person selbst erschien ihm nun zum ersten Mal total unbekannt. War das alles im Ernst gemeint?

– Es ist doch ein Witz, oder? – Walthers Gesicht entspannte sich in einem nervösen Lächeln. – Gut gespielt, ich hab es schon wirklich geglaubt, weißt…

Sie blickte ihn verständnislos an.

– Aber das Ding mit dem Zeugendatum ist trotzdem etwas zu grauslich. Du weißt doch, ich war bei Erich. Ich glaube, ich brauche ein bisschen Wein, willst du auch?

Er stand auf und ging zur Tür.

– Walther, meinst du, ich scherze? – In ihrer Stimme konnte man sogar etwas Empörung heraushören.

– Sicher.

– Sei doch nicht so blöd, wer scherzt mit so was?

Er blieb stehen.

– Aber der Befund… Und das Datum…

Sie durchbohrte ihn mit einem schweren, aber todernsten Blick. Wie ihm Traum kam er wieder zu seinem Tisch, der ganze Körper fühlte sich leblos und mechanisch an, als ob er eine große Puppe wäre, in den jemand kleiner trotz aller Vorstellungen von form- und größenmäßigen Raumnutzung hineingesteckt wäre.

– Wer ist dann der Vater des Kindes? – fragte er schwach.

– Berger. – Sagte sie einfach.

Walther sank langsam in seinen Sessel zurück. Anton. Anton? Anton und Helga? Der war doch gerade nicht in den USA…

Nein, das kann wohl nicht stimmen! Sie sind ja alle gemeinsam aufgewachsen, Anton, Martin, Erich und er. Mayer konnte sich doch noch an die Zeit erinnern, wo Anton (und die anderen Drei auch) seine Milchzähne unter den Kissen versteckte und auf die Zahnfee wartete. Er habe doch mit Anton alles geteilt, von den ersten erotischen Fantasien bis zu großen Problemen der modernen Sprachwissenschaft. Und auch seine Frau?

Anton war der einzige von den Vier, wer nie heiratete. Er lernte Frauen leicht kennen und verabschiedete sich von ihnen genauso leicht. Der letzte Mohikaner, wie Erich ihn nannte (Erich war der vorletzte, bevor ihn seine amerikanische Freundin wegschnappte). „Man lebt das Leben am besten unkompliziert, und ich ziehe vor, unkomplizierte Verbindungen zu haben“ – heißt das nun etwa, dass auch Helga zu diesen „unkomplizierten Verbindungen“ gehörte? Aber wie ist es möglich? Das kann ja gar nicht wahr sein…

– Du schaust doch so aus, als ob es so monströs wäre. – Helga zuckte die Achseln und zündete eine neue Zigarette an. – Was ändert das überhaupt?

– Wie… – Ein starkes Husten wegen dem allzu trockenen Hals. – Wie meinst du das: was ändert das?

Sie zuckte wieder die Achseln.

– Du meinst, du schläfst mit meinem besten Freund und wirst von ihm schwanger und das ändert nichts?

– Ach, Walther, um Himmels Willen! Das klingt ja alles so dramatisch, wenn du es so sagst! – Sie verzog ihr Gesicht in einem Ausdruck der gereizten Enttäuschung. – Wir sind doch in keinem Frauenroman und wir sind keine Kinder mehr. Was ändert das, wer mit wem schläft, solange wir in einer Mannschaft spielen? – er leistete keine Reaktion. – Wieso schweigst du? Schau doch nicht so blöd an, du siehst wie ein Hund aus, den man im Regen vor der Haustür verlassen hat. Wir sind erwachsene, gesunde und – ich bitte dich! – ordentlich gebildete Menschen! Was machen dir diese altmodischen Vorurteile aus? Schau, du bist mein Ehemann, das heißt, du bist mehr als jeder blöder Liebhaber, den ich je haben könnte. Du bist ja mein Verbündeter. Schau, wie wunderbar wir es zusammen schaffen. Ich glaube, meine Professur wird gerade zu unsrem Jahrestag ein wunderbarer Geschenk sein, m? Und das versteht sich ja, dass ich dieses Kind nicht behalten kann, ich wollte es nie, wieso soll ich jetzt meine Entscheidung ändern? Und du, glaubst du wirklich, dass du mit deiner männlichen Träumerei von einer Nachfolge neun Monate lang mein schwangeres Herumjammern aushältst? Und Übelkeit, und komische Esswünsche und was sonst? Und unsre Wohnung sollte man neu gestalten, das heißt die Bibliothek gehört wahrscheinlich raus, m? Nein, geh, das tue ich nicht! Auf so was lasse ich mich sicher nicht ein! – Er schwieg noch. – Du wolltest etwas Wein, oder? Soll ich uns den 1990-r Chardonnay schenken? Ich freue mich so sehr, dass du endlich mal wieder zuhause bist.

Sie ging leicht aus dem Zimmer heraus und er konnte bald hören, wie eine Flasche Wein entkorkt wurde und wie zwei Weingläser an einander klirrten. Ihm wurde leicht übel. Die Fieber war wieder zurück. Als er aufstand und im Badezimmer sein Gesicht wusch, fiel es ihm ein, wie alt und krank sein Gesicht im Spiegel aussah.

Dieses Jahr in April werden es 22 Jahre sein seitdem er Helga heiratete. Am 3 April. Es war ein regnerischer Tag und Helga beklagte sich, dass das Wetter ihre Frisur zerstört hat, eigentlich das Einzige, was an ihr dem Anlass entsprechend war. Sie trug ihre dunkelrote Schlaghose und ein buntes gelb-grün-orangenes Halstuch zu ihrer weißen Bluse. Er hatte seine grüne „Akademikerhose“ aus Kordsamt an und dazu ein schwarzes Hemd mit einer weißen Flitze – Helga hat gemeint, oben sah er wie ein Priester, unten wie ein Popper aus. Er konnte sich nicht satt sehen, sie wirkte so lebendig und glücklich und unglaublich frei in ihrer mädchenhaften Schönheit.

Was blieb nun von all Diesem übrig? Eine Frau, die ihre Kirschenzigaretten rauchte und kaltblütig davon sprach, dass sie von seinem besten Freund schwanger war – daran aber kein Problem fand und sich schon auf den bald kommenden Jahrestag freute. Ein Mann, der vor dem Badezimmerspiegel stand, mit der Übelkeit kämpfte und keine Ahnung hatte, wie er sein noch vor einer Stunde so gemütliches und beneidenswertes Leben weiter treiben sollte. Sollte er nun gehen? Oder anders gefragt: konnte er nun bleiben?

Irgendeine Kraft drang ihn zurück ins Arbeitszimmer, wo Helga gerade die Gläser vom Tablett auf seinen Tisch stellte.

– Sag mal bitte, und wie lange… – Walther suchte nach einem passenden Wort. – Wie lange dauert´s schon zwischen dir und Anton?

Helga blieb kurz bewegungslos, nachdenkend, bevor sie antwortete:

– Wann warst du damals in Prag?

– 1992.

– Na ja, also 3 Jahre wohl. Ich weiß es nimmer, wie es dazu kam, es war wahrscheinlich ein reiner Zufall, weißt. Aber so ist das Leben. – Und sie bot ihm das Glas.

Drei Jahre lang schläft sein bester Freund mit seiner Ehefrau. Und niemand von den Beiden hält es für wichtig, – solange sie beide das offensichtlich für normal halten – ihn, Mayer, zu informieren. Drei Jahre lang war er so blind, dass er nichts bemerkt hat. Hat er nicht gut geschaut? Ob es Zeichen gegeben hat, die er – bewusst oder unbewusst ignoriert hat? Ob er nicht gut genug, nicht aufmerksam genug war? Ob er für Helga nicht ausreichend präsent war? Aber sie wollte nicht mehr als was es gab, sie meinte, er werde mit der Zeit zu süßlich und romantisch, sie meinte, er wirke fast aufdringlich mit seinen Anrufen und Zärtlichkeiten. Was hat er falsch gemacht? Warum? Warum?

– Walther? Bist du immer noch da? – Sie winkte vor seinem Gesicht und lachte dabei etwas nervös und vielleicht ein bisschen zu künstlich.

– Ja. – Antwortete er langsam. Plötzlich war die Entscheidung da. – Aber verzeih mir, nicht für lange.

Das Lächeln blieb für einige Sekunden auf ihrem Gesicht hängen und verschwand dann langsam. Mayer war schon im Vorzimmer und zog wieder den Mantel an. Helga lief aus dem Arbeitszimmer und blieb stehen, sie wirkte nun verstört.

– Walther, was machst du? Wohin willst du nun? Was ist los?

– Ich muss weg. – Er blickte sie kurz an und fügte höflich hinzu: – Entschuldige mich, ich bin anscheinend nicht wirklich gut an dem Zusammensein für Fortgeschrittene.

– Bleib doch… Walther! Sei doch nicht kindisch, wir können das alles besprechen! Wir sind doch beide vernünftige Menschen. Und das Kind treibe ich sowieso ab, das weißt du schon…

– Treibst du auch Anton ab? Wir sind doch gar nicht zu zweit, aber zumindest zu dritt, nicht?

– Aber wohin gehst du jetzt? Es ist schon dunkel und du bist nach dem Flug müde. – Sie trat zu ihm und streichelte leicht seine Haare, wie sie es schon tausendmal gemacht hat. Diese Geste voll süße Wärme. Seine Frau. Mayer zuckte zusammen und drehte sich zur Tür.

– Mach dir keine Sorgen, Helga, alles wird gut. Er griff an den Koffer und schritt aus der Wohnung, machte die Tür leise zu und ging schnell die Treppe herunter. Mit jedem Schritt etwas schneller, dann schon laufend. Auf der Straße fiel ihm ein, der Schlüsselbund sei oben geblieben. Es war ihm egal. Walther fand ein Taxi – ein freundlicher Türke half ihm, den Koffer in den Kofferraum zu stecken, als ob es so schwer wäre… Aber vielleicht wirkte er gar nicht gut… Zitternd am ganzen Körper setzte sich Walther ins Auto und gab nach kurzem Nachdenken die Adresse von Martin an. Ein blitzender Gedanke, ein Zweifel, ob er nun Martin vertrauen konnte, ob auch dieser mit Helga… Aber nein, das wäre schon etwas zu viel. Während der Fahrt starrte er blind die Stadt an. Es gab keine Gedanken, nicht einmal Schmerz, es fühlte sich so an, als ob man bei ihm da innen im Brustkorb das Licht ausgeschaltet hätte. Oder ist es ein Stromausfall? Das wusste Mayer nicht. Nichts mehr war klar. Er war allein, sich selbst unbekannt und von einer fremden Welt umgeben. Wie in einem blöden Witz…

– Haben Sie schon diesen Witz gehört? – Tratschte der Taxifahrer. – Ein Mann kommt nach Hause und findet seine Frau im Bett…

Das ganze Leben ist ein Witz, nicht? Ein Mann kommt nach Hause…